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Zitate aus der Diskussion um das Zimmerwalder Manifest
Zimmerwald, 5. bis 8. September 1915

Aus Horst Lademacher (Hg.): Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz, I. Protokolle, The Hague ; Paris: Mouton 1967. Hervorhebungen durch die Redaktion.

Karl Radek:
„Solange die Regierungen von der Weiterführung des Krieges noch Erfolge erhoffen, kann nur ein entschlossener Druck der Arbeitermassen nützen. Nur wenn sie durch Strassendemonstrationen, politische Streike, ja durch Aufstände, sich dem Moloch entgegenwerfen, können sie ihn an die Kandarre nehmen. Dies wäre Revolution. Revolutionen kann man nicht machen, ihr Eintreten ist abhängig von der Zuspitzung der Verhältnisse, was bei weiterem Kriegsverlauf keinesfalls ausgeschlossen ist. Die Aufgabe der Sozialdemokratie diesen Möglichkeiten gegenüber besteht in dem Vorbereiten der Massen auf sie, in dem Aussprechen, dass ohne Revolution eine siegreiche Friedensaktion unmöglich ist, in der Bildung illegaler Organisationen zwecks unverhüllter Agitation.“ (S. 116)

Robert Grimm:
„Wollen wir ein Manifest bloss an die Parteigenossen oder an die breiten Massen der Arbeiter? Wollen wir das letzte, so muss der Aufruf einen ganz anderen Charakter tragen. Ich meine, wir sollten einen Aufruf an das gesamte Proletariat erlassen. Also lassen wir zuerst darüber diskutieren, damit wir wissen, was wir wollen. Im Betreff auf die Resolution-Lenin möchte ich erstens bemerken, dass diese sich ausschliesslich an die organisierten Parteigenossen, nicht an die Massen, wendet. Zweitens, dass es unzweckmässig ist, unsere taktischen Massnahmen vor dem Gegner zu enthüllen. (Zustimmung)“ (S. 126)

Wladimir I. Lenin:
Grimm irrt sich, wenn er sagt, unsere Resolution und unser Manifest richten sich nicht an die Massen.“ (S. 127)

Georg Ledebour:
„Die Berliner Genossen, von denen ich mein Mandat zur Konferenz erhalten habe, waren einstimmig der Anschauung, dass wir hier zusammenkommen, um zu erfüllen, was das Internationale Sozialistische Bureau nachgelassen hat, nicht um die 3. Internationale zu gründen. (…) Die Resolution Lenin ist unannehmbar. Wir alle wünschen, dass es zu einer revolutionären Aktion komme, aber die detaillierte Aufforderung zu revolutionären Aktionen soll man nicht in die Welt hinausposaunen. (…) Vielleicht wird es tatsächlich zu revolutionären Aktionen kommen, jedoch nicht deshalb, weil wir in einem Manifeste dazu auffordern. (…). Gewiss ist eine Agitation in den Schützengräben wünschenswert, es wird schon darauf hingearbeitet, jedoch sie wird auf eine mehr praktische Art betrieben, als wozu im Leninschen Manifest aufgefordert wird. In den kriegführenden Ländern wären die Unterzeichner und Verbreiter eines solchen Manifestes gleich erledigt, schon deshalb kann, wer wirkliche Aktion will, ihm unmöglich zustimmen. Wir können nicht weitergehen, als dazu auffordern, den Klassenkampf wieder aufzunehmen, ihn mit den gewöhnlichen Mitteln fortzusetzen, solchen Mitteln, die auch im Frieden zur Anwendung gelangen.“ (S. 127)

Wladimir I. Lenin:
„Es war unausbleiblich, dass es hier zum Meinungskampf zwischen uns und Ledebour kommen würde. (…) Man kann nicht Revolution machen wollen, ohne die revolutionäre Taktik zu erläutern. Es war gerade dies eine der schlechtesten Eigenschaften der zweiten Internationale, dass diesen Erläuterungen immer aus dem Wege gegangen ist“. (S. 128)

Leo Trotzki:
„An wen wenden wir uns mit dem Manifest? An die Massen oder bloss an die Parteigenossen. Das ist ein Spiel mit Worten, denn die Massen sind nicht fest und klar, sondern fliessend. Bei den letzten Wahlen in Deutschland gaben 4 Millionen ihre Stimme für die Sozialdemokratie ab. Gewiss sind diese Massen noch nicht sozialistisch durchgebildet, sind heute noch nicht für jede Aktion wider den Krieg zu haben. Jedoch ebensowenig bilden sie ein gänzlich unvorbereitetes Gebiet. Diese Massen sind im heutigen Moment desorientiert, angesteckt vom Chauvinismus (…). Wir wollen nicht vergessen, dass die Erziehung der Massen bedingt wurde durch die Verhältnisse der nicht-revolutionären Epoche, welche hinter uns liegt. Es wäre äusserst zu bedauern, wenn jetzt gerade in dem linken Flügel eine neue Täuschung auftauchen würde, nämlich die Unterschätzung dessen, was in der hinter uns liegenden Epoche erreicht ist. Wir müssen uns klar darüber werden, dass die neuen Bedingungen der revolutionären Epoche, in die wir eingetreten sind, zu einer neuen Kampfesweise drängen. Wenn die Abbildung dieser Bedingungen in unseren Köpfen schon so weit vorgeschritten ist, dass wir daraus die Notwendigkeit einer neuen Taktik ableiten können, so werden sie sich auch stark genug beweisen, eine solche zu erzeugen.“ (S. 132)

Fritz Platten:
„Man lässt sich meiner Ansicht nach allzusehr von dem Verlagen nach Einigkeit beherrschen. Es wäre doch vor allem wünschenswert, in einer Resolution die Prinzipien klar zu formulieren. (S. 138)

Costatino Lazzari:
„Wir sind eine Minderheit in den Parteien, diese selbst wieder eine Minderheit in den Nationen. Mir kommt es prätentiös vor, uns Aufrufe zu erlassen, vor allem im Tone Radeks. (...) Man soll betonen, was die Parteien vereinigt, nicht, was sie trennt. Ich glaube nicht, dass wir eine Revolution herbeiführen können dadurch, dass wir die insurrektionellen Kampfmittel aufzählen. Wir sind nicht für Insurrektionen, schon weil wir nicht die Kraft haben, sie siegreich durchzuführen.“ (S. 138)

Bertha Thalheimer:
„Der Kampf für den Frieden kann nicht direkt erfolgreich sein. Es muss ein Kampf sein für den Zusammenschluss der Massen, zur Erneuerung des Klassenkampfes. Zu Massenaktionen sind wir im gegenwärtigen Moment zu schwach. Das Manifest soll sich richten an die Massen. Der alten Politik soll es die neue entgegenstellen, auch wo diese weiss, ihren Willen noch nicht erzwingen zu können. Aus strategischen Gründen ist es wohl nicht möglich, das Manifest Radek zu veröffentlichen. Nicht Mangel an Mut bestimmt unsere Haltung: wir von der Minorität sind vollkommen bereit zu illegalen Mitteln. Liebknecht hat grossen Anhang: Die ganze süddeutsche Opposition steht hinter ihm, seine Tat war eine Erlösung, ein Flammenzeichen in der Finsternis. (Zustimmung). Wir von der äussersten Linken wenden uns schon an die Massen, jedoch unsere energischsten Vorkämpfer stecken im Gefängnis.“ (S. 141)

Giacinto Menotti Serrati:
„Wäre der Krieg noch keine Tatsache, so würde ich der Leninschen Resolution zustimmen. Heute kommt sie zu früh oder zu spät. Der Krieg ist von sehr starken Minoritäten durchgesetzt worden, wären wir zur Anwendung gewaltsamer Mittel bereit gewesen, so hätten wir ihn verhindern können.“ (S. 141)

Alphonse Merrheim:
„Eine revolutionäre Bewegung kann nur aus dem Kampfe für den Frieden hervorgehen. Sie, Genosse Lenin, sind beherrscht nicht von dem Verlangen nach dem Frieden, sondern von dem Wunsche, die Grundpfeiler einer neuen Internationale aufzurichten: dies ist es, was uns trennt. Wir verlangen ein Manifest, das die Aktion für den Frieden fördern wird; wir wollen nicht betonen, was uns trennt, sondern was uns vereint (Lebhafter Beifall).“ (S. 146)

Henriette Roland Holst:
„Die Arbeitermassen der kriegführenden Länder sind zwar kriegsmüde, aber es fehlt ihnen die Energie zum Kampf, weil sie durch den Zusammenbruch der Internationale den Glauben an den Sozialismus verloren haben. Es ist vor allem notwendig, sie zum Kampfe für den Frieden, der zum Ausgangspunkt revolutionärer Kämpfe werden kann, zu gewinnen. In diesem Geiste ist der Entwurf, den Trotzki und ich eingereicht haben, gehalten.“ (S. 142)

Oddino Morgari:
„wird sich zu seinem grossen Bedauern der Abstimmung enthalten müssen. Das Manifest ist seines Erachtens simplistisch und ungerecht. Simplistisch, weil es nur den ökomomischen Tatsachen Rechnung trägt und alle anderen Faktoren ignoriert, so die nationalen, psychologischen usw. Ungerecht, weil es die Schuld am Kriege in gleichem Masse allen Regierungen aufladet, während in Wirklichkeit die Zentralmächte die Hauptschuldigen sind. Diese fingen den Angriffskrieg an, während Frankreich, Belgien und Serbien sich im Verteidigungszustande befinden. Auch genügt es nicht, keine neuen Annexionen zu fordern, man soll sich auch positiv aussprechen zugunsten der Befreiung all jener Nationen und nationalen Gruppen, die von mächtigeren Nationen unterdrückt werden. (...)
Seit Anfang des Krieges werden wir beschuldigt, zugunsten der deutschen Politik zu arbeiten. Die Fassung des Manifestes gibt dieser Beschuldigung neue Nahrung.“ (S. 151, 155)

Viktor M. Tschernoff:
„muss leider auf zwei schwerwiegende Unterlassungen hinweisen. Erstens werden im Manifest bloss die ökonomischen Gründe erwähnt. Er hat jedoch speziell in Russland, noch andere wichtige Gründe, und zwar die dynastischen Interessen. (…) Zweitens hält er den Ausdruck, dass das Proletariat die Kosten des Krieges zu zahlen habe, für zu eng gefasst. Er möchte stattdessen Ausdrücke wie 'die Welt der Arbeit' oder 'die Massen der arbeitenden Bevölkerung' vorschlagen. In Russland sind es in erster Linie die Bauern, welche die Kosten zu tragen haben werden.“ (S. 151)

Im Namen Lenins und Genossen wird die folgende Erklärung zu Protokoll gegeben:
Erklärung:
Die Unterzeichneten erklären:
Das Manifest der Konferenz befriedigt uns nicht vollständig. Es enthält keine Charakteristik des offenen wie mit radikalen Phrasen zugedeckten Opportunismus, der nicht nur der Hauptschuldige des Zusammenbruches der Internationale ist, sondern ihn verweigern will. Es enthält keine klare Charakteristik der Hauptkampfesmittel gegen den Krieg. Wir werden wie bisher in der Presse der Internationale wie in ihren Tagungen für eine entschiedene marxistische Stellungnahme zu den durch die Epoche des Imperialismus dem Proletariat gestellten Aufgaben, eintreten. Für das Manifest stimmen wir, weil wir es als Aufruf zum Kampfe auffassen und bei diesem Kampfe Arm bei Arm mit den anderen Taten der Internationale vorgehen wollen.
Wir bitten, diese Erklärung dem offiziellen Bericht der Konferenz einzuverleiben.
Lenin, Zinovieff, Radek, Nerman, Höglund, Winter“ (S. 154)

Angelica Balabanoff:
„Unsere Haltung soll ausschliesslich bestimmt werden von der Überlegung, was das Proletariat von uns zu erwarten hätte, was seiner Einheit und Macht förderlich sei. Sagen Sie nur, Morgari, was ist für Sie das wichtigste: dass man Sie auch weiter beschuldigen wird, von den Deutschen gekauft zu sein oder dass Ihre Stimmenthaltung gegen die sozialistische Internationalität ausgebeutet werden wird? Wie sehr ich auch mit Ihnen mit fühle, so halte ich dafür, dass es gerade die doppelte Pflicht ist für sei, die Verleumdungen, deren Opfer sie sind, nicht zu berücksichtigen.“ (S. 157)

 

Schlussabstimmung
„Es wird zur Abstimmung geschritten. Grimm bittet die Delegierten, ihre Zustimmung zum Manifest dadurch zum Ausdruck zu bringen, dass sie sich von ihren Sitzen erheben. Als Morgari und Tschernoff sich mit den andern erheben, bricht grosser Jubel aus.*
Grimm konstatiert unter grosser Begeisterung, es sei das Manifest mit allgemeinen Stimmen angenommen.
Die Anwesenden stimmen in die ‚Internationale‘ ein.“ (S. 157)

*Fassung im handschriftlichen Protokoll: „Als Morgari sich mit den anderen erhebt, bricht grosser Jubel aus. Nur die Vertreter der russischen So[zial]-Re[volutionäre], Tschernoff und Bobroff, haben sich nicht erhoben; die Delegierten verschiedener Nationalitäten dringen lebhaft auf sie ein mit Rufen des Aufforderns und Bittens. Als auch sie schliesslich der Aufforderung zur Einheit nachgeben und sich erheben, fängt der Jubel von neuem an.“